DAS LADENLOKAL
Welche Rolle spielt das stationäre Ladenlokal für die Zukunftsfähigkeit des Reisevertriebs?
Teure Mieten in beliebten Innenstadtlagen stellen besonders in der unsicheren Wirtschaftslage seit Beginn der Corona-Pandemie eine große Belastung für klein- und mittelständische Reiseunternehmen dar. Gleichwohl gilt die Präsenz vor Ort als Magnet für Laufkundschaft und als wichtiger Faktor, um Aufmerksamkeit auf dem lokalen Markt zu gewinnen.
Schaufenster dekoriert mit Pappaufstellern, die Reiselust wecken sollen und vermitteln, was das vorbeischlendernde Publikum hier erwartet. Im Inneren erwarten die reisefreudigen Interessenten bunte Katalogwände hinter Schreibtischinseln mit großen Bildschirmen, die bei Bedarf leicht in Richtung Kundschaft gedreht werden können. Eine zweckmäßige Ausrichtung der Verkaufsräume, die lange Jahre lang dienlich war und gut angenommen wurde.
Doch ist das unter Berücksichtigung der sich ändernden Konsumpräferenzen des Zielpublikums noch zukunftsträchtig? Welche Alternativen sind denkbar? Welche Merkmale müssen die Räumlichkeiten erfüllen, um eine qualitativ hochwertige Beratung, unterstützt durch innovative Technologien, anbieten zu können?
Mögliche Modelle:
Ladenlokal ohne Laufkundschaft – Verlust der Sichtbarkeit oder sogar Qualitätsmerkmal?
Räumlichkeiten ohne direkte Laufkundschaft, möglicherweise in der ersten Etage in Innstadtlage oder außerhalb des Stadtkerns, klingen im ersten Moment nach einer großen Herausforderung für die Reiseberatung und Neukundenakquise. Wie werden KundInnen auf ein Reisebüro aufmerksam, das „versteckt“ im Obergeschoss liegt oder sich an einer Ausfallstraße befindet, also an einem Standort, der z.B. verkehrstechnisch gut erreichbar ist, an dem aber wenig Menschen nur zufällig entlang spazieren? Ein Vorteil liegt auf der Hand: günstigere Mieten tragen zu einer effizienteren und resilienten Geschäftsführung bei. Weiterhin kommt es ganz auf die Ausrichtung der angebotenen Leistungen an, ob eine Alternative zum herkömmlichen Ladenlokal sinnvoll ist. Um Potenzialen und Risiken auf den Grund zu gehen, waren wir im Gespräch mit dem Touristiker Ralf Trilsbeek, Geschäftsführer von ReiseArt aus Münster, der sich dazu entschieden hat, seinen langjährigen Standort aufzugeben. Im Interview beschreibt er seine Herangehensweise und Erfahrungen mit dieser Entscheidung:
„Ich habe irgendwann realisiert, dass ich mit einem Ladenlokal in Innenstadt- und Erdgeschosslage im Geschäftsreisebereich auf Dauer nicht erfolgreich sein kann und dass das wirtschaftlich ganz schwierig ist und man dort eine andere Struktur braucht. Von daher habe ich 2001 oder 2002 irgendwann nach Lösungen gesucht und das hat darin gemündet, dass wir mit einem Kollegen, auch aus dem Lufthansa City Center Netzwerk, hier in der Region eine eigene Firma gegründet haben und aus zwei kleinen Geschäftsreiseeinheiten eine gemacht haben und so das Thema neu aufstellen konnten – in Etagenlage, mit anderer Kostenstruktur und völlig anderer Spezialisierung. So wechselt der Mitarbeiter am Counter nicht zwischen Pauschalreise Mallorca und danach Businessclass nach XY hin und her, sondern es ergibt sich auch im Team eine Fokussierung und in der Technik vor allem. Also auch da haben wir relativ früh den Schritt raus aus der normalen Reisebürohülle gewagt.“
Und heute?
„Das ReiseArt Team ist komplett raus aus der Erdgeschosslage, wo wir zugegebenermaßen schon lange darüber nachgedacht haben, ob das überhaupt Sinn macht. Will ich jetzt unten im Erdgeschoss 30€-50€/qm zahlen oder in der 1. Etage 10€, 12€ oder 15€? Ich habe unter Umständen die gleiche Qualität – in Etagenlage vielleicht sogar eine höhere, weil es zurückgezogener ist, weil kein Kunde direkt im Schaufenster sitzt und die Leute von draußen schauen, was der Herr Sowieso gerade bucht. Ich übertreibe ein bisschen, aber eine hochwertige Beratungsatmosphäre kann oder darf vielleicht gar nicht im Ladenlokal stattfinden oder man muss es zumindest baulich irgendwie anders machen. Deswegen hatten wir das in dem ReiseArt-Büro schon mehrfach auf dem Zettel. Ich habe mich nie so richtig getraut, weil ich mir dachte: wenn ich das jetzt mache, bin ich erstmal aus der Sichtbarkeit weg, dann verliere ich mein Butter-und-Brot-Geschäft, also die normale Touristik und nur von den besonderen Themen kann ich die Strukturen nicht komplett ernähren, deswegen haben wir das nie vollzogen. Jetzt war das eine perfekte Gelegenheit. Wir sind jetzt in den deutlich größeren Laden der Kollegen vom Reisebüro Lückertz gezogen.“
– Interview mit ReiseArt Geschäftsführer Ralf Trilsbeek –
Shop-in-Shop
Die Möglichkeiten einer Online-Buchung, ganz unabhängig von Öffnungszeiten, sind unüberschaubar groß geworden. Laut der Reiseanalyse von 2020 lösten Online-Buchungen das persönliche Gespräch bereits 2018 als wichtigsten Buchungsweg ab[1]. Durch die Corona-Pandemie ist die Affinität für Online-Käufe noch gestiegen.
Angesichts der großen Online-Konkurrenz braucht es neue, überzeugende Argumente für einen Besuch im stationären Reisebüro – ganz gleich ob es sich um eine Top-Lage in der Innenstadt oder Randlage mit Beratungen auf Termin handelt. Hierbei können strategische Kooperationen helfen, neue Mehrwerte und Alleinstellungsmerkmale zu schaffen. Vertriebskooperationen mit anderen Einzelhändlern, wie z.B. einem Buchladen oder einem Café können Synergieeffekte schaffen, neue Kundengruppen anziehen und einfach zum Verweilen einladen. So wird auch die Schwelle, den Schritt in ein Reisebüro zu wagen niedriger.
Klicken Sie auf den Button, um mehr über die Risiken und Potenziale von Shop-in-Shop Möglichkeiten zu erfahren, sowie konkrete Erfahrungsberichte zu außergewöhnlichen Kombinationen zu lesen.
Eine weitere Möglichkeit ist es, (digitale) Erlebnisse während des Reisebüro-Besuchs zu generieren. Was sind die Gründe für KundInnen, IHR Reisebüro zu besuchen? Welchen Mehrwert, welches Erlebnis bietet es? Ihr Raumkonzept sollte sich ebenfalls stringent an der Nutzerperspektive ausrichten. Welche Zielgruppe wollen Sie damit bedienen?
Ideen zu unterschiedlichen Räumlichkeitskonzepten haben wir hier gesammelt.
Mobiles Reisebüro & mobile Reiseberater
Der mobile Reisevertrieb kann als Füller für die Dienstleistungslücke zwischen dem Onlinevertrieb und dem klassisch stationären Reisebürovertrieb fungieren[2]. Mobile Reiseberater können ähnlich wie der Onlinevertrieb flexibel, schnell und jederzeit erreichbar sowie unabhängig sein, gleichzeitig mittels Laptop und Web-Client auf die gängigen Reservierungssysteme der Reisebüros zugreifen und damit die Beratungstätigkeiten von stationären Reisebüros anbieten. Im Gegensatz dazu, wie es noch in den 90er Jahren war, sind mobile Reiseberater heute meist als Unteragenturen bestehender Reisebüros oder in Verbänden organisiert[4]. Auch Reisebürokooperationen und -ketten haben diese Möglichkeit der Verknüpfung von Expedienten-Expertise und Onlinegeschäft erkannt und reagieren mit entsprechenden Angeboten. So inkludieren Reisebürokooperationen und -ketten wie RTK, Schmetterling, TVG, TUI oder LCC mobile Reiseberater direkt in ihre Vertriebsstrategie und bieten die gleichen Leistungen wie ein stationäres Reisebüro oder bilden Tochterunternehmen, welche sich ausschließlich auf den mobilen Reisevertrieb konzentrieren (siehe Take Off, Feria, Holiday Profis, Travelista)[3]. Inwieweit der mobile Reisevertrieb zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen wird, ist schwer vorauszusagen, aber dennoch lässt sich feststellen, dass die Digitalisierung und die Covid19-Pandemie ein Sprungbrett für den mobilen Reisevertrieb darstellen kann und auch von den großen Ketten, Kooperationen und Franchisegebern bereits erkannt und gefördert wird.
Inwieweit der mobile Reisevertrieb zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen wird, ist schwer vorauszusagen, aber dennoch lässt sich feststellen, dass die Digitalisierung und die Covid19-Pandemie ein Sprungbrett für den mobilen Reisevertrieb darstellen kann und auch von den großen Ketten, Kooperationen und Franchisegebern bereits erkannt und gefördert wird.
Kooperation mit Wettbewerbern
Auch strategische Kooperationen mit anderen Akteuren aus der Tourismus-Branche bieten Potenziale für eine zukunftsfähige Ausrichtung. Drei Reisebüros aus Münster haben sich mitten in der Krise für einen Schulterschluss entschieden – über die Gründe und Ausgestaltung dieser Kooperation erfahren Sie mehr in unserem Interview mit Ralf Trilsbeek, Inhaber der Agentur ReiseArt:
[1] Reiseanalyse 2020 (2020): Erste ausgewählte Ergebnisse
der 50. Reiseanalyse zur ITB 2020. Online verfügbar unter https://reiseanalyse.de/wp-content/uploads/2020/03/RA2020_Erste-Ergebnisse_DE.pdf
[2] solamento reisen GmbH (2008): Mobile Reisevermittler kostenlos – solamento revolutioniert Reisebranche. Online verfügbar unter https://www.pressetext.com/news/mobile-reisevermittler-kostenlos-solamento-revolutioniert-reisebranche.html, zuletzt geprüft am 16.02.2022.
[3] Gürtler, M. (2022): Mobiler Vertrieb: Die Auswahl ist größer geworden. Online verfügbar unter https://www.touristik-aktuell.de/nachrichten/reisevertrieb/news/datum/2022/01/03/mobiler-vertrieb-die-auswahl-ist-groesser-geworden/, zuletzt abgerufen am 06.01.2022.
[4] Hermann, H.-P. (2016): Das Reisebüro aus Kundensicht. In: Tourismuspsychologie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-50286-0_4